Die zwei Vögel
Es waren einmal 2 Vögel, die saßen sich in einem Käfig gegenüber. Der eine hatte ein prachtvolles Gefieder und saß auf einer Stange. Der andere war hässlich, er sah aus, als ob er sich in der Mauser befände und saß in einer Ecke auf dem Boden. Sie beäugten sich argwöhnisch und keiner konnte den anderen ignorieren. Irgendetwas verband sie.
Wie kann man nur so hässlich sein, dachte der schöne Vogel und blickte von seiner Stange herab auf den Vogel in der Ecke. Er ist nutzlos. Wer mag ihn schon? Ob er überhaupt singen kann?
Der hässliche Vogel seinerseits betrachtete den schönen Vogel mit herablassendem Interesse. Er hatte ein prachtvolles Gefieder, aber das war auch schon alles. Darunter verbarg sich ein Vogel, der ebenso traurig war wie er selbst. Warum sang er nicht? Er selbst konnte schön singen, doch wozu? Die Weibchen, die er mit seinem Gesang anlocken würde, würden erschreckt wieder wegfliegen, wenn sie ihn sahen. Sein Gesang wollte so gar nicht zu seiner äußeren Erscheinung passen.
Es verging eine lange Zeit, die Vögel verharrten auf ihren Plätzen. Keiner ging auf den anderen zu oder richtete das Wort an ihn. Der Tierpfleger, der nach ihnen schaute, hatte die beiden aus gutem Grund gemeinsam in diesen Käfig gesetzt. Es waren die letzten verbliebenen Vögel dieser Art und er hoffte sie würden sich paaren und damit den Fortbestand dieser Art sicherstellen.
Eines Tages stand ein Kind am Käfig und betrachtete die Vögel mit großem Interesse. Es sprach: „Der eine mit seinem prachtvollen Gefieder sieht toll aus, aber der andere, der in der Ecke sitzt, gefällt mir besser. Er blickt mich an, als würde er mich verstehen. Ich würde sie gerne singen hören. Ich komme in wenigen Wochen wieder, dann ist Frühling und Paarungszeit, vielleicht singen sie dann.“
Beide Vögel wurden sehr traurig. Sie wussten, sie würden auch im Frühling nicht singen können und schliefen bedrückt ein. In dieser Nacht träumten beide denselben Traum: Es war Frühling, die Käfigtür stand offen und es stand ihnen frei hinauszufliegen. Beide Vögel flogen zur Käfigtür und schauten hinaus in die Freiheit. Sie hatten denselben Gedanken: Ich würde gerne hinausfliegen. Doch was erwartet mich da draußen? Ich habe Angst alleine zu bleiben. Der Tierpfleger hat gesagt, es gibt nur noch uns beide. Ich muss versuchen, mit diesem anderen Vogel zu sprechen, vielleicht möchte er mich begleiten.
Am nächsten Morgen, noch ganz in der Erinnerung an diesen Traum, blickten sich die beiden unschlüssig an. Nach dem Frühstück nahm der schöne Vogel seinen ganzen Mut zusammen, stieg herunter von seiner Stange und stolzierte zu dem Vogel in der Ecke. Er plusterte sich auf, um sich Mut zu machen und begann, von seinem Traum zu erzählen.
Als er geendet hatte, sagte der hässliche Vogel: „Dasselbe habe auch ich geträumt und weißt du was? Ich habe schon lange darauf gewartet, diesen Käfig verlassen zu können. Ich mag dich nicht besonders, weil du so eitel und eingebildet wirkst. Aber ich habe dich intensiv beobachtet. Unter deinem prächtigen Gefieder verbirgt sich ein unglücklicher Vogel und ich frage mich, warum du nicht singst.“
Der schöne Vogel fühlte sich wie nackt und bloßgestellt. Dieser hässliche Vogel hatte ihn durchschaut. Er ließ sich jedoch nichts anmerken und fragte: „Und du? Warum singst du nicht?“ Die Antwort kam sehr leise: „Ich habe es verlernt. Als junger Vogel konnte ich sehr schön singen. Die anderen Vögel wurden neidisch und hackten nach mir. Da habe ich aus Angst um mein Leben aufgehört zu singen.“
„Oh“, sagte der schöne Vogel, „das ist eine traurige Geschichte,. Ich habe Mitleid mit dir und du hast gleichzeitig meine Neugier geweckt. Ich konnte auch vor langer Zeit schön singen. Ich war der Stolz der ganzen Vogelschar. Oft wurde ich aufgefordert; „Sing du, du kannst es am besten“. Mir war aber nicht immer danach und ich wäre lieber still und für mich geblieben, aber ich musste singen. Es war unmöglich, nicht zu singen. Irgendwann konnte ich mich nicht mehr zwingen, den anderen zuliebe zu singen und habe ganz damit aufgehört. Meine Schönheit war plötzlich verschwunden und ein anderer Vogel, der nur halb so schön sang wie ich, übernahm meine Aufgabe.“
Die beiden Vögel hatten nun viel Gesprächsstoff und wurden bald gute Freunde. Nach einer Weile wurden sie hungrig. Ihr Tierpfleger hatte sie schon länger nicht mehr gefüttert. Hatte er sie vergessen? Unruhig flogen sie im Käfig umher und versuchten sich durch Klappern am Zaun bemerkbar zu machen. Niemand bemerkte sie, sie drohten zu verhungern.
Es gab nur eine Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen. Auf ein geheimes Zeichen fingen beide an lauthals zu singen. Es klang gleich, aber doch verschieden. Jeder Vogel sang in seiner eigenen Tonart dasselbe Lied von Freude und einem glücklichen Leben außerhalb des Käfigs.
Es war inzwischen Frühling geworden. Das Kind war zurückgekehrt und freute sich über den Gesang. Es verstand die Botschaft hinter den Tönen : „Öffne die Tür, wir wollen hinausfliegen, wir sind Vögel und wollen in Freiheit leben. Es soll dein Schaden nicht sein, wir werden dich mit unserem Gesang erfreuen, solange wir leben.“
Das Kind öffnete die Käfigtür. Die Vögel kamen herbei, flogen eine Runde über den Käfig, wobei sie das Kind sanft mit ihren Flügeln berührten und erhoben sich in die Lüfte.